Interview Brigitte Hegmann (24. Oktober 2023)

Wenn es schwierig wird – Lächle!

Kaum zu glauben, dass die Frau, die auf mich zukommt, 97 Jahre alt ist. Sie geht vorsichtig, aber lebhaft an einem weißen Gehstock, trägt einen grünen Pullover und eine schwarze Hose. Unser Ziel ist das Bistro der Therme in Bad Orb. „Da ist es warm! Wir haben im Haus Probleme mit der Heizungsanlage“, erzählt Brigitte Hegmann, die seit dem Jahr 2012 aktives Mitglied im Blinden- und Sehbehindertenbund in Hessen ist und anlässlich des 100. Geburtstags unseres Selbsthilfevereins bereit ist aus ihrem Leben zu erzählen.

Ihre Geschichte erzählt sie lebhaft und begleitet, mit ausdrucksstarken Gesten. Um besser sehen zu können befestigt sie eine kleine Lampe am Tisch. Sie hat einen Ordner mit wichtigen Dokumenten aus ihrem Leben mitgebracht. Hin und wieder nimmt sie ihr „liebstes Hilfsmittel“, eine Leuchtlupe mit 12,5-facher Vergrößerung, zur Hilfe. Mit ihrem besseren Auge sieht sie nur noch 0,05 Prozent und mit dem anderen nur noch Handbewegungen. Ihre ersten Hilfsmittel besorgte sie gemeinsam mit ihrer Tochter auf der SightCity 2012.

„Ich sehe erst seit 12 Jahren so schlecht“, sagt Brigitte Hegmann. Während einer Kur in Bad Kissingen konnte sie plötzlich auf dem rechten Auge nichts mehr sehen. 14 Tage später folgte das zweite Auge. Makula-Degeneration lautete die Diagnose. Bis heute unterzieht sie sich alle vier Wochen einer Spritzenbehandlung. Das kann die Erkrankung nicht heilen, aber den Verlauf verlangsamen.

Inzwischen hat sie viel Erfahrung mit ihrer Seheinschränkung und Hilfsmitteln und es ist ihr ein Anliegen, auch anderen Menschen zu helfen. „So kam der Treff für sehbehinderte Menschen in Bad Orb auf mich“, berichtet sie. Beim Gründungsabend war Silvia Schäfer von der Bezirksgruppe Hanau des Blinden- und Sehbehindertenbundes in Hessen dabei, berichtet Hegmann. Von ihr bekam sie viele Informationen und Unterstützung. „So können wir vielen Menschen helfen, mit weißen Stöcken, Buttons, guter Beleuchtung und anderen Hilfsmitteln. Heute sind wir circa 12 Leute in unserer Selbsthilfegruppe“, berichtet die Seniorin. Sie ist allerdings etwas besorgt, da sie bis jetzt keinen Nachfolger finden konnte.

Sogar sportlich ist Brigitte Hegmann noch aktiv. Sie trat mit 96 Jahren in den Turnverein in Bad Orb ein. „Als aktives Mitglied!“ erzählt sie stolz. Dort ist sie die älteste Turnerin. Zudem spielt sie mit Leidenschaft Boule und gründete mit 80 Jahren einen Boule-Treff in Bad Orb. Als ihre Augen zunehmend schlechter wurden, bastelte ein Mitspieler einen kleinen Turm für die Zielkugel, damit sie es besser erkennen konnte.

Doch nun wandern wir mit Brigitte Hegmann zurück, in die Zeit vor fast 100 Jahren, als der BSBH e.V. gegründet wurde und sie Ende September 1926 in Duisburg geboren wurde. „Meine Eltern haben fabelhaft für mich und meine zwei Brüder gesorgt. Wir hatten ein warmherziges Elternhaus“, berichtet Brigitte Hegmann. Sie erinnert sich, dass ihr der Vater einen begehbaren Kaufladen gebastelt hat und die Mutter hübsche Kleidung für sie und ihre Puppen nähte. Der Vater war Betriebsschlosser und arbeitete in der Duisburger Kupferhütte. „Für uns konnte er einfach alles“, erinnert sich Brigitte. Er brachte nicht nur seinen Söhnen, sondern auch seiner Tochter den Umgang mit Werkzeug bei. Für diese Zeit war das ungewöhnlich.

Ihr Patenonkel hatte bereits 1936 ein Auto und holte seine Nichte zu Sonntagsausflügen mit seiner Familie ab. Als Erfrischung lernte sie so das „neue Wundergetränk“ Coca Cola kennen. Es schmeckte ihr absolut nicht – bis heute.

Brigitte Hegmann besuchte in Duisburg die Johanna-Sebus-Schule, vormals katholische Oberschule für Mädchen und kam bald nach der Einschulung in die nächsthöhere Klasse. Schon mit acht Jahren verreiste Brigitte in den Ferien in ein Kinderheim. „Das wurde von der Kupferhütte organisiert“, erzählt sie. „Später wurde das von den Nationalsozialisten übernommen.“.
(Wie viele andere christliche Institutionen hatte auch das Katholische Oberlyzeum unter den Repressalien des NS-Regimes zu leiden, so genehmigte der Oberpräsident der Rheinprovinz nur noch die Klassen Tertia (heute 8 und 9) und Prima (12 und 13), so dass die Schule zum 30. März 1938 schließen musste. Der gesamte Besitz, Grundstück mit Gebäude und Inventar, musste an die Stadt Duisburg verkauft werden. Quelle: Wikipedia: Duisburg, katholische Mädchen Oberschule)

Ab 1936 galt die Pflichtmitgliedschaft im Bund Deutscher Mädel „sofern sie nicht aus rassischen Gründen ausgeschlossen waren“ (Quelle: Wikipedia) und Brigitte wurde ein Jungmädel. „Wir trafen uns am Sonntag um 10 Uhr, nach der Kirche zu Gesellschafts- und Ballspielen. Ich leitete die Gruppe. Ein Mädchen kam eines Tages nicht mehr und ich habe sie zu Hause aufgesucht, um zu fragen, ob sie krank ist. Ihr Vater öffnete die Tür und erklärte, sie sei nicht krank. Er sei Kommunist und wolle nicht, dass seine Tochter bei den Jungmädels mitmache. „Und jetzt kannst Du gehen und mich anzeigen!“ schloss er. Ich fragte naiv: „Warum denn? Ich würde Sie doch niemals anzeigen!“

Am 10. November 1938 kam ihre Schulfreundin zu Brigitte, um nach der Schule mit ihr in die Stadt zu gehen. „Da ist allerhand los!“ sagte sie. Ihr Ziel war das Wasserviertel in der Duisburger Innenstadt – ein „besseres“ Viertel. Auf dem Weg dahin sahen sie wie Klaviere und Möbel auf die Straße geworfen wurden. „Was ist das für ein komischer Umzug?“ fragte sie ihre Freundin. Dann sahen sie, dass Feuer aus der Synagoge aufstieg. Aus den Fenstern der danebenliegenden Judenschule wurde Lehrmaterial, Karten und ausgestopfte Tiere geworfen. Die damals 12-Jährige war, wie sie selbst sagt total entsetzt. „Das kann der Führer nicht wollen! Das ist eine Schande!“
(10. November 1938: Kurz nach Mitternacht wird die Duisburger Polizei von Düsseldorf aus darüber informiert. „Hiergegen ist nicht einzuschreiten!“. Die Polizei erhält Anweisung, nur Plünderungen zu unterbinden. Die Feuerwehr darf bloß einschreiten, damit Feuer nicht woanders übergreift. Quelle: WAZ: Aktualisiert: 09.11.2021, 18:00 / Autor: Martin Kleinwächter: https://www.waz.de/staedte/duisburg/pogromnacht-so-wueteten-nazi-schlaegertrupps-1938-in-duisburg-id233786253.html)

1940 wurde die gesamte Schule von Brigitte Hegmann mit Lehrpersonal und Schülerinnen „in die Tschechei“ in das Hotel Vedamov bei Písek am Zusammenfluss von Moldau und Otava verlegt. Die Stadt gehörte ab 1939 zum deutsch besetzten Protektorat Böhmen und Mähren (Quelle: Wikipedia). Brigitte Hegmann war damals 14 Jahre alt.

1942, inzwischen befand sich Deutschland auch im Krieg mit Russland, mussten die Schülerinnen und ihre Lehrer wieder umziehen. Diesmal in die Kleinstadt Luhačovice, einem Kurort, der bis heute bekannt ist für seine Heilquellen. „Wir wurden dort zwangseinquartiert“, berichtet die 97-Jährige. „Das war nicht schön für die Tschechen.“ Doch auch dieser Aufenthalt währte nicht lange. Die Schule zog um in das Schloss Klecany (Schloss Kletzan) zehn Kilometer nördlich des Stadtzentrums von Prag.
(Im Jahre 1894 wurde die Familie Benies Besitzer des Schlosses. Nördlich des Schlosses entstand in den 1920er Jahren ein Militärflugplatz. Nach der deutschen Besetzung verkaufte Mathilde, geschiedene Benies, das Schloss Groß Kletzan an die Hitlerjugend. Quelle: Wikipedia)

„Im Schloss Kletzan gab es eine Kinderbibliothek, die ich betreute. Mit allen Karl-May-Bänden!“ erzählt BH noch heute begeistert. Für das Kind war das damals ein Schatz. „Lernen und Bücher waren für mich immer wichtig,“ berichtet sie und erklärt, dass der Besuch der Oberschule teuer war, sie aber eine Freistelle innehatte. Dann ging es für die Schülerinnen weiter nach Poděbrady (Podiebrad). Die Eltern kamen während dieser ganzen Zeit nur einmal zu Besuch. „Post war deshalb sehr wichtig!“

1943 wurde dann ein Teil der Schule nach Schwäbisch Hall verlegt. Brigitte Hegmann berichtet, wie sie sich mit inzwischen 17 Jahren selbst einen Transportschein ausfüllte und bangte, ob sie damit über die Grenze käme. Es gelang und sie kam bei einer Konditorenfamilie in Schwäbisch Hall unter. Doch ihre Schulzeit endete nur kurze Zeit später. Im Sommer 1944 wurden die Schülerinnen in einem offenen LKW in den Wald gefahren und halfen bei einer Außenstelle der Firma Messerschmitt bei der Flugzeugmontage.

Ihre Mutter musste nach Ausbombung aus Duisburg evakuiert werden und befand sich inzwischen in Jungholzhausen in der Nähe von Schwäbisch Hall. Dort fand sie Zuflucht auf einem Bauernhof.

Als für Brigitte in der Stadt die Situation zu gefährlich wurde, ging sie zu ihrer Mutter. Doch am Ende des Krieges kam es auch in Jungholzhausen zu schweren Kämpfen. Sie lebten stundenlang im Keller. Als nach einem dieser Gefechte eine längere Stille einkehrte, wollte das Mädchen nachsehen und stand plötzlich einem jungen amerikanischen Soldaten mit Maschinengewehr im Anschlag gegenüber.
(Bei der amerikanischen Besetzung Deutschlands kam es am 15. April 1945 in Jungholzhausen zu einem heftigen Kampf zwischen dem 254. US-Infanterieregiment und Pionieren der Wehrmacht sowie einer SSJägerkompanie der 17. SS-Panzergrenadier-Division „Götz von Berlichingen“. Die Amerikaner erlitten bei den Kämpfen hohe Verluste, siegten jedoch und nahmen zahlreiche SS-Soldaten gefangen. Die Dorfbewohner zählten 63 tote Deutsche. Zeugenaussagen zufolge ermordeten die US-Soldaten zahlreiche der Kriegsgefangenen. Die genaue Zahl lässt sich nicht mehr feststellen, Schätzungen reichen von 13 bis 30 Soldaten. Quelle: Wikipedia) 

Hinter ihm stand ein Panzer und das Kanonenrohr war direkt auf sie gerichtet. „Wir hatten Beide Angst. Was tun? Ich lächelte und ging langsam rückwärts, bis ich die Haustür schließen konnte. Es war nichts geschehen,“ erzählt Brigitte Hegmann. Bis heute begleitet sie deshalb ihr Lebensmotto: Wenn es schwierig wird – Lächle!

Und das Lächeln kam auch in den kommenden Jahren nicht zu kurz. Über das zerstörte Würzburg – „Es standen dort nur noch Fassaden!“ – schlug sie sich nach Alsfeld zu ihrem Bruder durch. Dort sammelte sie erste Erfahrungen als Schulhelferin, denen dann ein Studium der Pädagogik für die Grundschule folgte. Doch das Studium war teuer. So beschloss Brigitte Hegmann wieder nach Duisburg zu gehen, wo ihre Eltern inzwischen wieder wohnten. Dort arbeitete sie zunächst als Werksstudentin in der Kupferhütte. Als junges Mädchen hatte sie bereits Stenografie und Maschineschreiben gelernt. Da es ihr Spaß machte, blieb sie im Verein und nahm erfolgreich an Wettschreiben teil. So wurde sie rasch Direktionssekretärin. „Und das mir! Ich wollte niemals ins Büro“, erzählt die 97-Jährige schmunzelnd.

In Duisburg lernte sie ihren Mann kennen. Mit ihm ging sie nach Köln, wo ihr Sohn geboren wurde. Drei Jahre später zogen sie nach Mühlheim am Main. In Hessen kam ihre Tochter zur Welt. Die Liebe zu Bad Orb entdeckte die Familie im Jahr 2000. „Meine jetzige Wohnung war unsere ehemalige Ferienwohnung“, erzählt Brigitte Hegmann. Nach dem Tod ihres Ehemanns zog sie dort ein und baute sich allein und trotz der zunehmenden Seheinschränkungen wieder ein erfülltes Leben auf.

Ihr Lächeln, auch in schwierigsten Situationen und das Bedürfnis anderen zu helfen sind die großen Triebfedern ihres Lebens. „Sie ist so außergewöhnlich agil und engagiert für ihr Alter“, sagt mit einem Schmunzeln Silvia Schäfer, die Leiterin der Hanauer Bezirksgruppe des BSBH. „So würde ich mir manch ein junges Mitglied wünschen!“